Überfordert, überreizt, übersehen? – Wie Stress unseren Tierschutzhund aus dem Gleichgewicht brachte

Als Simba bei uns ankam, war alles neu – für ihn, aber auch für uns. Ein Tierschutzhund aus Rumänien, vorsichtig, aufmerksam, manchmal wie eingefroren. Wir wussten, dass er Zeit brauchen würde. Und wir wollten alles richtig machen.

Rückblickend haben wir vielleicht zu viel auf einmal gewollt: ein sicheres Zuhause, schöne Erlebnisse, neue Routinen, kleine Ausflüge, erste Urlaube. Für uns fühlte sich das wie ein liebevoller Neuanfang an. Für ihn war es wahrscheinlich einfach… zu viel.

Es hat gedauert, bis wir verstanden haben, dass Stress bei einem Hund nicht immer aussieht wie Angst oder Panik. Manchmal ist es einfach ein Zuviel an Eindrücken, Reizen, Anforderungen. Und manchmal zeigt sich das erst später – wenn der Hund auf einmal nicht mehr zur Ruhe kommt, sich verändert, zurückzieht oder „anders“ wirkt.

In diesem Artikel erzählen wir ehrlich, was bei uns passiert ist – und was wir heute anders machen. Vielleicht hilft es dir, schneller zu merken, wenn dein Hund überfordert ist. Vielleicht findest du dich auch ein Stück weit wieder.

Unser Tierschutzhund Simba

Hey, wir sind Manu und Matthias, und haben seit Sommer 2023 unseren Hund Simba aus Rumänien bei uns aufgenommen. Hier nehmen wir euch mit in unseren Alltag und auf unsere gemeinsamen Reisen.

 

Woran erkenne ich Stress beim Hund

Stress bei Hunden kann sich auf sehr unterschiedliche Weise zeigen – nicht immer ist er sofort offensichtlich. Laut Expert:innen wie der Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz (TVT) und dem Schweizer Hundepsychologen Erik Schmid zählen unter anderem folgende Anzeichen zu den häufigsten Stressreaktionen bei Hunden:

  • Hecheln ohne körperliche Anstrengung

  • Zittern, Speicheln oder vermehrtes Schuppen

  • Gähnen, Lefzenlecken, übertriebene Selbstpflege

  • Rückzug oder Unruhe (z. B. ständiges Umherlaufen)

  • Übersprungshandlungen (z. B. plötzliches Kratzen, Bellen)

  • Verdauungsprobleme (z. B. Durchfall, Appetitlosigkeit)

  • Gereiztheit oder plötzliche Reizüberflutung

Quellen: TVT Merkblatt „Stress beim Hund“ (2020), [Schmid, E. (2022): Stresssignale bei Hunden, hundepsychologie-schmid.ch]


Bei Simba zeigen sich Stressphasen ganz anders

Bei Simba verlaufen Stressphasen oft leise – aber deutlich spürbar. Er wirkt plötzlich wieder scheuer, fast so, als würde er in die Anfangszeit zurückfallen, in der alles neu und angsteinflößend war.

Er wird schreckhafter, läuft bei Spaziergängen zügiger und möchte schneller wieder nach Hause. Drinnen zieht er sich mehr zurück, sucht weniger Nähe. Und wenn unterwegs zu viele Reize auf ihn einprasseln – etwa unerwartete Geräusche, Menschenmengen oder fremde Hunde – kann er regelrecht in Panik verfallen.

Das wirkt auf den ersten Blick unscheinbar – aber wenn man genau hinschaut, sind es sehr deutliche Zeichen: „Ich bin überfordert.“

Was löst bei Tierschutzhunden besonders leicht Stress aus?

Tierschutzhunde bringen häufig eine Vorgeschichte mit, die ihre Belastbarkeit stark beeinflusst. Viele kommen aus Reizarmen, teils auch chaotischen oder bedrohlichen Verhältnissen: Straßenleben, Tierheim, Isolation oder Unsicherheit gegenüber Menschen. Dadurch fehlt ihnen oft die Resilienz, um mit neuen, komplexen Reizen gelassen umzugehen (Overall, K. 2013; Beerda et al. 2000).

Besonders folgende Situationen können bei Tierschutzhunden Stress auslösen:

  • Ungewohnte Geräusche: lauter Straßenverkehr, Feuerwerk, Baustellen

  • Plötzliche Ortswechsel: neue Urlaubsorte, Hotels, Ferienwohnungen

  • Menschenansammlungen: Besuch bei Verwandten, größere Feste

  • Fremde Menschen oder Artgenossen: unsichere Kontaktaufnahme

  • Ungewohnte Tagesabläufe: viele Wechsel zwischen Aktivität und Ruhe

  • Längere Reisen: Autofahrten, neue Umgebungen, neue Gerüche

Quellen: [Overall, K. L. (2013): Clinical Behavioral Medicine for Small Animals], [Beerda et al., Physiology & Behavior (2000): Behavioural and hormonal indicators of enduring environmental stress in dogs]

Wie wir es bei Simba erlebt haben

Wir haben sehr deutlich gemerkt, wie empfindlich Simba auf bestimmte Kombinationen von Reizen reagiert. Besonders schwierig sind mehrtägige Familienbesuche: Viele Menschen, fremde Räume, wechselnde Bezugspersonen, ständig neue Eindrücke. Obwohl Simba anfangs oft erstaunlich souverän wirkt, merken wir spätestens zuhause, dass diese geballte Reizflut viel bei ihm auslöst.

Nach solchen Tagen zieht er sich zurück, ist schreckhafter und sucht vermehrt sichere Rückzugsorte. Manchmal braucht er mehrere Tage, bis er auf den gewohnten Spazierwegen wieder entspannt läuft und seine übliche Neugier zeigt.

Wie lange hält der Stress nach solchen Ereignissen an?

Oft zeigt sich Stress bei Hunden nicht nur während des eigentlichen Ereignisses, sondern auch noch Tage später. Der Körper braucht Zeit, um die ausgeschütteten Stresshormone – vor allem Cortisol – wieder abzubauen (Mills et al., 2014). Studien zeigen, dass dieser Abbau mehrere Tage dauern kann, abhängig von Intensität und Dauer der Belastung (Horwitz & Mills, 2009; AskasAnimals.org, 2023).

Typischer Verlauf nach einem intensiven Stressereignis:

Zeitraum Typische Reaktion
Während des Ereignisses Maximale Anspannung, Alarmbereitschaft, Adrenalin dominiert
1. Tag danach Häufig Übererregung: Schreckhaftigkeit, Unruhe, erhöhter Bewegungsdrang oder anhängliches Verhalten
2.–3. Tag danach Oft Wechsel: einerseits verstärkte Müdigkeit, andererseits schnelle Überreaktionen auf kleine Reize
Ab 4.–5. Tag Normalisierung setzt ein, Hund wirkt wieder stabiler – falls keine neuen Belastungen hinzukommen

Quellen: [Mills et al., Veterinary Behaviour (2014); Horwitz & Mills (2009): BSAVA Manual of Canine and Feline Behavioural Medicine; AskasAnimals.org (2023): Cortisol Recovery in Dogs]<

Unsere Erfahrungen mit Simba: So lange wirkt Stress bei ihm nach

Bei Simba erleben wir dieses „Nachbeben“ sehr deutlich. Nach besonders vollen Tagen – etwa einem Silvesterabend, langen Verwandtenbesuchen oder Kurzurlauben – ist er häufig am nächsten Tag besonders anhänglich und gleichzeitig sehr schreckhaft.

Auf unseren üblichen Spazierwegen läuft er dann oft schneller nach Hause, erschrickt bei eigentlich vertrauten Geräuschen und zieht sich zuhause deutlich mehr zurück als sonst. Für uns fühlt es sich dann an wie ein kurzer Rückfall in seine ersten Wochen bei uns.

Wir haben gelernt: Solche Phasen sind nicht ungewöhnlich, sondern Ausdruck des biochemischen Erholungsprozesses. Wichtig ist, ihm in dieser Zeit möglichst wenige neue Reize zuzumuten und bewusst für Ruhe, Vorhersehbarkeit und Sicherheit zu sorgen.

Was wir verändert haben: Alltag anpassen & Stressabbau unterstützen

Nachdem wir bei Simba immer wieder diese Phasen von Überforderung und Rückschritt erlebt haben, haben wir begonnen, unseren Alltag gezielt anzupassen. Unser Ziel war dabei nicht, jeden Reiz auszuschließen – aber bewusst besser auf Simbas Belastungsgrenze zu achten.

Erwartungen herunterschrauben – und entspannt bleiben

Früher waren wir oft frustriert, wenn Simba nach einem aufregenden Tag plötzlich wieder „Rückschritte“ zeigte. Dinge, die vorher gut klappten – wie Freilauf oder neue Umgebungen – wurden dann schwierig.

Heute wissen wir: Das ist keine Absicht oder „Ungehorsam“, sondern eine normale Reaktion auf Stress. Und wir antizipieren das bewusst.

Was wir jetzt tun:

  • Wir beobachten wie abrufbar er wirkt – und lassen ihn im Zweifel auch dort wo er sonst freiläuft einfach mal an der Leine – bis wir uns wieder sicher sind.

  • Wir wählen bekannte, ruhige Wege, damit Simba weniger neue Reize verarbeiten muss.

  • Wir bleiben dabei selbst ruhig, auch wenn er schreckhaft oder unkonzentriert wirkt.

Unser wichtigster Grundsatz:

Kein zusätzlicher Stress durch Ärger oder Druck. Wenn etwas gerade nicht klappt, ist das okay. Wir warten einfach ab, bis er wieder entspannter ist.

Denn wir haben gemerkt: Unsere eigene Haltung überträgt sich direkt auf ihn. Wenn wir gelassen bleiben, fällt es auch Simba leichter, wieder zur Ruhe zu kommen.

Mehr Ruhe nach aufregenden Tagen

Wir haben akzeptiert, dass auf jeden aufregenden Tag mindestens ein bis zwei Ruhetage folgen sollten.
Nach großen Familienfeiern, Urlauben oder Feiertagen planen wir bewusst ein paar sehr ruhige Tage mit:

  • möglichst gleichbleibender Routine

  • bekannten, ruhigen Spazierwegen

  • kaum neuen Reizen oder Besuchen

  • viel Rückzugsmöglichkeit für Simba

🐾 Unser Prinzip: Ein aufregender Tag braucht mindestens zwei entspannte Tage.

Rückzugsräume schaffen

Gerade bei längeren Besuchen (z. B. bei Familie) achten wir darauf, Simba von Anfang an Rückzugsorte anzubieten:

  • ein eigenes, ruhiges Zimmer (z. B. Gästezimmer mit Hundebett)

  • klare Vereinbarung mit Gästen, dass er dort ungestört bleibt

  • vertraute Decken, Spielzeug und Kauartikel als „sichere Insel“

Er nutzt diese Rückzugsräume inzwischen ganz selbstverständlich, wenn es ihm zu viel wird.

Sanfte Beschäftigung statt neuen Input

Wenn Simba sehr angespannt ist, setzen wir auf beruhigende Aktivitäten:

  • Kauartikel (z. B. getrocknete Kauwurzeln, Ochsenziemer)

  • Schleckmatten oder befüllte Kongs

  • kleine Suchspiele drinnen oder im Garten

Diese Aktivitäten helfen ihm, innere Spannung abzubauen, ohne ihn zusätzlich aufzuregen (AskasAnimals.org, 2023).

Fazit: Geduld, Ruhe – und das Vertrauen, dass es besser wird

Unsere wichtigste Lektion aus diesen Erfahrungen? Manchmal hilft es am meisten, einfach mal nichts zu tun.

Viele dieser „Stress-Rückschritte“ bei Simba haben sich mit der Zeit von selbst wieder gelegt – je weniger wir daran gezogen und gedrückt haben. Statt ihn zu zwingen oder unsere Erwartungen hochzuhalten, haben wir gelernt, das Ganze einfach sein zu lassen: ihm Ruhe zu geben, keine neuen Anforderungen zu stellen und darauf zu vertrauen, dass er seinen eigenen Weg zurück in die Entspannung findet.

Wir haben auch gelernt, noch besser auf seine Signale zu achten. Manchmal zeigt er uns ganz leise, dass es ihm zu viel wird – und wir können dann schon vorher bremsen.

Wichtig ist uns dabei: Jeder Hund ist anders. Was für Simba gilt, muss nicht für deinen Hund stimmen. Die Reaktionen hängen von so vielen Faktoren ab: Alter, Herkunft, Charakter, Vorgeschichte. Deshalb lohnt es sich, den eigenen Hund wirklich gut kennenzulernen und nicht zu vergleichen.

Und vor allem: Geduld haben und selbst ruhig bleiben. Denn oft ist genau das das Beste, was wir für unsere Hunde tun können. 🐾

Stress und Überreizung bei Tierschutzhunden

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Eine Reise mit Simba
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